"Der Mensch muss immer im Mittelpunkt stehen!"

Warum gewerkschaftliches Engagement wichtig ist, was Wien einzigartig macht und welche Stärken Bruno Kreisky hatte, erzählt Michael Ludwig im Gespräch mit Manfred Obermüller und Karin Zauner-Lohmeyer.

Zauner-Lohmeyer: Michael, wann und wie hast du das erste Mal mit der Gewerkschaft zu tun gehabt?

Michael Ludwig: Durch meine Mutter. Sie war Hilfsarbeiterin in einer Fabrik und hat immer gesagt: Die einzigen, auf die man als Arbeiterin bauen kann, sind die Gewerkschaft und die Sozialdemokratie.

Und du Manfred?

Manfred Obermüller: Bevor ich meinen Dienstvertrag unterschrieben habe, bin ich der Gewerkschaft beigetreten. Im Magistrat war das in den 1980er Jahren so üblich. Ich bin dann bald gefragt worden, ob ich mich nicht engagieren möchte.

Ludwig: Ich war übrigens auch einige Jahre Betriebsrat in einer Bildungsinstitution. Somit weiß ich, dass man jene, die sich in der Personalvertretung engagieren, gar nicht genug loben kann. Sie sind bereit, in der Demokratie Verantwortung zu übernehmen. Ganz nach dem Motto - das Bruno Kreisky zurecht kreiert hat - "Alle Lebensbereiche mit Demokratie durchfluten". Damit ist auch dieDemokratie am Arbeitsplatz gemeint.

Manfred, was schätzt du an Michael Ludwig?

Obermüller: Aus meinem tiefengrün-weißen Herz muss ich sagen: Wir haben gemeinsam die Leidenschaft für denselben Fußballverein.

Rapid.

Obermüller: Genau! Aber Spaß beiseite. Ich schätze vor allem seine Handschlagqualität, dass er stets ein offenes Ohr hat und keine populistischen Entscheidungen trifft. Wir reden über Probleme, diskutieren Themen ohne versteckte Fouls. Ich mag seine Ruhe und Besonnenheit.

Michael, was schätzt du an Manfred Obermüller?

Ludwig: Ich bin ein großer Verfechterder Sozialpartnerschaft - im Unterschied zu manchen Politikerinnen und Politikern auf Bundesebene. Um die Sozialpartnerschaft beneiden uns viele Länder. Darum, dass man einen Ausgleich von unterschiedlichen Sichtweisen auf Augenhöhe durchführen kann und Probleme auch offen anspricht. Niemand hat etwas davon, wenn Dinge schöngeredet werden. Gemeinsam finden wir Lösungen. Und das schätze ich sehr.

Wien wächst rasch. Integration und Bildung sind große Herausforderungen. Welche Maßnahmen setzt die Stadt?

Ludwig: Integration war und ist immer eine Herausforderung. Wir haben diesen Prozess als Stadt immer aktiv begleitet. Nicht, dass heute alles ideal wäre, manches ist auch nicht so gelungen, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir müssen ständig daran weiterarbeiten. Aber in Summe haben wir die Integration deutlich besser bewältigt als viele andere Millionenstädte.

Woran liegt das?

Ludwig: Wir haben als Stadt vieles selbst in der Hand. Wenn ich etwa an die Wohnbaupolitik denke: Wir haben 220.000 Gemeindewohnungenund mehr als 200.000 von der Stadt Wien geförderte Miet- und Genossenschaftswohnungen. Dadurch können wir lenkend agieren. Auch im Bildungsbereich: Wir haben vor zehn Jahren den kostenfreien Kindergarten eingeführt und stellen ab heuer 70 städtische Ganztagsschulen kostenfrei zur Verfügung, mit verschränktem Unterricht und Freizeiteinheiten. Wir erzielen dadurch viele positive Effekte.

Welche?

Ludwig: Zum einen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Für viele Frauen schafft die Ganztagsschule die Möglichkeit, Vollzeit zu arbeiten. Zweitens wird die Integration gefördert. Drittens werden den Kindern abseits des Schulunterrichts musikalische Fächer aber auch Demokratiebildung und Sport angeboten.

Ist Wien damit einzigartig in Österreich?

Ludwig: Ja, wir sind Pioniere.

Manfred, wie geht die Gewerkschaft mit dem Thema der Integration um?

Obermüller: Aktiv. Wir wollen, dass sich alle Bediensteten auch vertreten fühlen. Wir sprechend aher Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund gezielt an, sich in der Personalvertretung zu engagieren.

Wien gilt als eine der lebenswertesten Städte der Welt. Was ist das Geheimrezept?

Ludwig:Ein Geheimrezept ist der konsequente Wiener Weg einer starken Daseinsvorsorge, das heißt, dass wir kommunale Dienstleistungen nicht privatisiert haben, wie es andere Städte getan haben. Wir sind unserer Linie treu geblieben. Kommunale Dienstleistungen werden unter einer sozialdemokratischen Regierung auch weiterhin im Eigentum der Stadt bleiben, und wir wollen auf die tüchtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt nicht verzichten.

Obermüller: Ich sehe das auch so. Das jahrzehntelange politische Vertrauen in eine starke, kompetente Verwaltung macht Wien besonders.

Ludwig: Eines möchte ich noch betonen: Nichts ist selbstverständlich. Es gibt politische Kräfte, die Daseinsvorsorge diametral anders sehen. Dass in anderen Städten privatisiert wurde, das ist nicht vom Himmel gefallen. Es kommt immer auf die politischen Mehrheiten an.

Eine Frage an euch beide: Wie hat die Stadtverwaltung die Pandemie bisher gemeistert?

Ludwig: Großartig. Ich möchte dazu ein paar Zahlen nennen. Wir haben jetzt 18.000 Home-Office-Plätze, vorher waren es 2.000. Wir haben 1.000 Videokonferenzen pro Tag im Rathaus, vorher waren es 30. Wir hatten in Spitzenzeiten unter der Rathausnummer rund 40.000 Anrufe täglich, sonst warenes 15.000. Und auch die App "Sag's Wien": Rund 95 Prozent aller Hinweise werden in kürzester Zeit positiv erledigt. Das muss uns einmal eine andere Stadt nachmachen.

Obermüller: Ich schließe mich da an. Was in kürzester Zeit geleistet wurde, ist sensationell.

Michael, du nennst Bruno Kreisky als dein Vorbild. Warum gerade Kreisky?

Ludwig: Bruno Kreisky war ein"Ermöglicher", immer bereit, Visionäres mit pragmatischer Politik zu verbinden. So machen wir das auch in Wien. Ich bin auch Vorsitzender des Bruno-Kreisky-Archivs und habe deshalb ein besonderes Auge auf sein Lebenswerk. Der Satz, den er geprägt hat: "Das Leben ist das Unvollendete", der gibt mir schon zu denken. Es war ihm bewusst, dass er trotz seines großen Einsatzes nie alles erreichen kann.

Was waren seine Stärken?

Ludwig: Er hat unterschiedliche Zielgruppen ansprechen können. Das sollten wir uns alle ins Stammbuch schreiben. Man muss für alle Menschen da sein und den Menschen immer in den Mittelpunkt rücken.

Manfred, hast du ein Vorbild?

Obermüller: Meine Vorbilder sind meine Großeltern. Sie waren einfache Bauern.

Ludwig: Wo waren sie zu Hause?

Obermüller: Bei Maissau. Sie hatten ein sehr hartes Leben, den Krieg miterlebt und gehörten zu jener Generation, die Österreich wieder aufgebaut hat. Ich habe viel Zeit mit ihnen verbracht. Sie waren immer bescheiden und dankbar. Das hat mich geprägt.

Wofür warst du in den vergangenen Wochen dankbar?

Obermüller: Dass in der Pandemie keine einzige Mitarbeiterin und kein einziger Mitarbeiter gekündigt worden ist und wir alle unser volles Gehalt weiter behalten haben. Und dass niemand in Kurzarbeit musste. Das ist nicht selbstverständlich.

Bürgermeister der Stadt Wien zu sein, ist fordernd. Woher nimmst du deine Energie?

Ludwig: Vom Zuspruch der Menschen, die in unserer Stadt leben, die mir mehrheitlich das Gefühl geben, dass das, was ich tue, richtig ist. Und gerade dieser Dialog ist ein wichtiges Korrektiv der eigenen politischen Arbeit.

Apropos Kritik. Wie gehst du damit um?

Ludwig: Ich sehe konstruktive Kritik immer als eine Möglichkeit, sich positiv weiterzuentwickeln. Von daher suche ich auch stark den Dialog mit den Gewerkschaften, die an einem Fortkommen der Stadt interessiert sind.

Manfred, wo holst du dir Kraft?

Obermüller: Ich hole mir Kraft von meiner Familie und in der Natur. Ich gehe sehr gerne laufen. Das bedarf einer gewissen Ausdauer und die ist in diesem Job sehr wichtig.

Was wünscht du dir vom nächsten Bürgermeister?

Obermüller: Dass wir den Spin beibehalten und weiterhin rasch, kompetent Entscheidungen auf Augenhöhe treffen. Das würde ich mir wünschen.

Danke für das Gespräch.

„Wir reden über Probleme, diskutieren Themen ohne versteckte Fouls.“

Manfred Obermüller